Lena Nzume: Rede zur Einführung eines Sozialindexes für eine gerechte bildungspolitische Planung und Verteilung von Ressourcen

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TOP 51 Sozialindex und Bildungsbericht für Niedersachsen - Einführung eines wissenschaftlich validen Sozialindex für eine gerechte bildungspolitische Planung und Verteilung von Ressourcen

- Es gilt das gesprochene Wort -

Sehr geehrte Landtagspräsident*in, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, geschätzte Mitmenschen,

Es braucht sechs Generationen - also etwa 150 Jahre - bis Kinder aus Armutsverhältnissen das aktuelle Durchschnittseinkommen in Deutschland erreichen. Ich wiederhole das noch einmal: Erst in etwa 150 Jahren erhalten Nachkommen einer Familie, die heute in Armutsverhältnissen lebt, das bundesdurchschnittliche Einkommen. Die PISA-Studie macht wieder deutlich: in Deutschland ist es deutlich schwieriger als in vielen anderen Industrieländern aus familiären Armutsverhältnissen herauszukommen.

Was bedeutete das für das Bildungssystem? Für das Bildungssystem heißt das: wir brauchen ein System, dass die Chancengerechtigkeit und Teilhabe erhöht und gezielt Bildungsungerechtigkeit entgegenwirkt! Es braucht solidarische Ressourcenverteilung, auf einer transparenten und validen Datengrundlage.

Es liegt auf der Hand, dass wir dringend Veränderungen in der aktuellen Bildungssituation brauchen. Leider wird anstatt konstruktiver Ideen in einigen Diskussionen von ideologischen Vorhaben gesprochen.

Wir können natürlich den bildungspolitischen Stillstand der letzten 20 Jahre weiter verwalten. Nur dann werden wir bei der nächsten PISA Studie noch schlechtere Ergebnisse erhalten.

Als regierungstragende Parteien wollen wir jetzt umsteuern und setzen uns daher für umfangreiche Verbesserungen im Bildungssystem ein. Wer Maßnahmen wie mehr Freiraum für Schulen und verbesserte Digitalisierung als ideologisch bezeichnet, hat offenbar die Vielschichtigkeit der Herausforderungen im niedersächsischen Bildungssystem nicht erkannt. Wir sind uns bewusst, dass Schulen an vielen Stellen Unterstützung benötigen. Schnelle Lösungen sind nicht die Antwort auf komplexe Probleme. Daher gehen wir gemeinsam mit der Kultusministerin Julia Hamburg die Umsetzung von 1000 Schritten an. Heute präsentieren wir eine weitere Maßnahme, die langfristig dazu beitragen wird, Bedarfe zu erkennen und Ressourcen sinnvoll zu verteilen.

Es steht außer Frage, dass Bildung der Schlüssel zur persönlichen und gesellschaftlichen Entwicklung ist. Internationale Studien wie PISA und IGLU haben jedoch aufgezeigt, dass der Bildungserfolg in Deutschland immer noch stark von familiären Ressourcen abhängt. Diese Ungleichheit bei den Bildungschancen verstärkt soziale Ungerechtigkeiten. Aufstieg ist in Deutschland kaum möglich. Das Aufstiegsversprechen durch Bildung wird so zur Farce oder zur Leistungslüge.

Das Problem liegt offensichtlich im Schulsystem. Aber es ist natürlich einfacher, Personen zu problematisieren, anstatt die strukturellen Probleme des Schulsystems anzusprechen. Es ist höchste Zeit, aus der Pisa-Schock-Starre zu kommen und Maßnahmen für mehr Bildungsgerechtigkeit einzuführen. Unser Land kann es sich schlichtweg nicht leisten, junge Menschen auf ihrem Weg in die Arbeitswelt zu verlieren. Wir brauchen Fachkräfte, motivierte Menschen im Handwerk, in der Pflege und in allen weiteren Branchen!

Die vorgeschlagene Entschließung setzt an diesem Punkt an und schlägt vor, diesem Missstand durch die Einführung eines wissenschaftlich fundierten Sozialindexes entgegenzuwirken. Ein solcher Index ermöglicht eine gerechtere bildungspolitische Planung und eine zielgerichtete Verteilung von Ressourcen, um den unterschiedlichen Bedarfen der Schulen gerecht zu werden.

Dabei gilt es zu prüfen, wie auch die Rahmenbedingungen für die einzelnen Schulen so verändert werden können, damit beispielsweise Schulen bei entsprechendem Bedarf auch kleinere Klassen bilden können. Es gilt  auch zu prüfen, wie eine umfangreiche sprachliche und sonderpädagogische Förderung sowie der Ausbau bzw. die Weiterentwicklung der Arbeit in Multiprofessionellen Teams ermöglicht werden kann.

Der Sozialindex dient es auch als Hintergrundinformationen für die Schulentwicklung. Wenn Lehrer*innen fehlen, leiden insbesondere sozial-ökonomisch benachteiligte Schüler*innen darunter, weil sie oftmals nicht auf familiäre Unterstützung beim Lernen zurückgreifen können. Deshalb brauchen Schulen in ökonomisch herausfordernder Lage mehr Unterstützung, die wir ihnen durch die zusätzlichen Mittel des Startchancen-Programm zuteilwerden lassen wollen.

Wir stimmen sicherlich alle darin überein, dass wir besonders in Zeiten knapper Ressourcen diese nicht mit der Gießkanne verteilen können, sondern gezielt einsetzen müssen. Ein Sozialindex ist ein solches Instrument, um Bedarfe gezielt zu erkennen.

Zwei Argumente werden gern gegen einen Sozialindex angeführt: Datenschutz und Stigmatisierung. Natürlich wird Schutz personenbezogener Daten gewährleistet. Dann kommt das Argument der Stigmatisierung: Es besteht die Sorge des Verlustes von Ansehen, wenn die Daten zu sozial-ökonomischen Struktur eine Schule veröffentlicht werden. Allerdings hat sich gezeigt, dass ehemals „Brennpunktschulen“ durch die bessere Ausstattung, die kleineren Klassen und die zusätzlichen Fördermöglichkeiten zu beliebten Schulen wurden. Gute Bespiele hierfür sind z.B. die Allemannenschule oder die Rütli-Schule.

Ich frage Sie: wollen wir aus Angst vor Stigmatisierung von Schulen, die ohnehin schon als sog. Brennpunktschulen bekannt sind, lieber intransparent und ungerecht in der Mittelvergabe bleiben? Eine gezielte Mittelvergabe durch eine transparente, vergleichbare und nachprüfbare Datengrundlage wäre allen sicherlich deutlich lieber.

Schulen sind keine Inseln, sondern in einem regionalen oder lokalen Sozialraum verortet. Daher wollen wir die gemeinsame Verantwortung für die regionale Bildung stärken. Es soll geprüft werden, wie sozialräumliche Daten aus dem Umfeld der Schulen den Sozialindex auch bei der Entwicklung weitergehender Maßnahmen ergänzen können. Hierzu gilt es natürlich mit den Schulträger*innen Gespräche aufzunehmen, um auch die Angebote der Jugendhilfe stärker mit den schulischen Maßnahmen zu vernetzen. Hierdurch entsteht vor Ort ein engmaschiges Bildungsnetzwerk, was auch bei den Übergängen förderlich ist.

Natürlich beabsichtigen wir auch, die Schulen enger miteinander zu verknüpfen, indem wir ihre Vernetzung stärken, sie in ihrer schulischen Entwicklung unterstützen und ihnen Gelegenheiten zum Austausch und zur Hospitation bieten. Die Erkenntnisse aus Projekten wie der Zukunftsschule oder dem Netzwerk der Schulpreisschulen belegen, dass Schulen lernende Organisationen sind und der Austausch als äußerst förderlich empfunden wird.

Weiterhin geht es uns um klare Entlastung. Der Index soll so gestaltet werden, dass Schulen einen geringen Aufwand mit einem hohen Nutzen haben. Bei der Erfassung schulscharfer Daten leistet die geplante einheitliche Schulverwaltungssoftware eine wertvolle Hilfestellung, sodass Schulen keine zusätzliche Arbeit der Datenerhebung bevorsteht.

Liebe Kolleg*innen,

der Erwerb der deutschen Bildungssprache ist entscheidend für einen erfolgreichen Bildungsweg, das zeigt auch die PISA-Studie. Deshalb ist es wichtig den Sprachförderbedarf zu erheben. Natürlich verfolgen wir auch das Thema Inklusion. Dabei soll es nicht darum gehen, bestimmte Personengruppen zu problematisieren, sondern auskömmliche Ressourcen zur Verfügung zu stellen.

Mir persönlich ist auch der Punkt 6 sehr wichtig: Dieser besagt, dass der Sozialindex ein lernendes und wachsendes Element ist. Unter Einbeziehung von Experten und Expertinnen aus Wissenschaft, Fachverbänden, Vertretungen marginalisierter Gruppen bzw. Communities, zivilgesellschaftlichen Akteur*innen, Gewerkschaften und Politik wird der Sozialindex im 5-Jahres-Turnus evaluiert und angepasst. Hierbei gilt es auch prozessbegleitend eine methodische und inhaltliche Weiterentwicklung der Indikatoren und Entwicklungsziele sowie daran orientierter Maßnahmen sicherzustellen.

Es ist von grundlegender Bedeutung, dass der Bildungserfolg nicht länger ausschließlich von familiären Ressourcen abhängt. Die Einführung eines Sozialindexes ermöglicht eine bedarfsgerechte Ressourcenverteilung für alle Kitas, Grundschulen und weiterführenden Schulen in unserem Land.

Ich appelliere an alle hier Anwesenden, sich gemeinsam für eine nachhaltige Verbesserung unseres Bildungssystems einzusetzen. Statt Sozialneid nach unten zu forcieren sollten wir uns daran erinnern, dass wir den Wert einer Gesellschaft daran erkennen, wie sie mit den Schwächsten ihrer Glieder verfährt (vlg. Gustav Heinemann).

Jeder von uns trägt Verantwortung für die Zukunft unserer jungen Generationen.

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